oder warum die Fähigkeit, Anderen zu begegnen, glücklich macht
Vor ein paar Monaten hat mich ein Freund zum Mittagessen eingeladen und mir dabei folgende Frage gestellt: „Hans, was hat dir in den letzten Wochen Erfüllung gegeben, dich glücklich gemacht?“ Nach kurzem Nachdenken standen mir einige Begebenheiten vor Augen – allesamt Begegnungen unterschiedlichster Art.
Achtsamkeit entwickeln
Die Aussage Martin Bubers: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ beschäftigt mich. Mir wird einmal mehr deutlich, welch wichtige Rolle meine Aufmerksamkeit und mein Interesse für andere Menschen spielen, damit erfüllende Begegnungen in meinem Alltag stattfinden. Wenn ich mich zu sehr um mich selbst drehe, mit überzogenem Engagement meine Ziele zu erreichen suche oder wenn ich durch inneren oder äußeren Druck getrieben durch mein Leben hetze, laufe ich Gefahr, an Achtsamkeit zu verlieren und gute Begegnungen zu verpassen.
Was bringt mir Erfüllung?
Wir leben in einem Land, in dem viele Menschen versuchen, durch einen höheren Lebensstandard ein Mehr an Glück, Zufriedenheit und Lebenserfüllung zu finden. Dafür investieren sie den Großteil ihrer Lebenskraft und Lebenszeit. Diese Rechnung geht aber nur bedingt auf: Natürlich brauche ich einen gewissen Lebensstandard, der mir erlaubt, bestimmte grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen. Aber es ist ein Irrglaube zu denken, dass ein Mehr an Materiellem zwangsläufig auch zu einer größerer Lebenszufriedenheit und Lebenserfüllung führt. Eine Reihe von Untersuchungen über „Glück und Zufriedenheit“ belegen dies. Macht der dritte Urlaub im Jahr, das zweite Auto, immer die neueste Technik … mich wirklich so viel glücklicher? Auf meinen Reisen treffe ich immer wieder Menschen, die trotz schlichter Lebensverhältnisse Zufriedenheit, Glück und Lebensfreude ausstrahlen und das Leben zu feiern verstehen. Viele unserer Grundbedürfnisse wie Liebe, Geborgenheit, Verstanden werden, Annahme, Identität, Gemeinschaftsgefühl werden vor allem im Rahmen von guten Beziehungen oder gehaltvollen Begegnungen gestillt.
Emotionale Sackgasse
Viele Menschen wünschen sich ein Mehr an Liebe, Verständnis, Nähe, Geborgenheit und Freude. Ein zu hohes Lebenstempo und Leistungsdruck (manchmal auch der frommen Art) laugen sie aus, und es fehlt die Zeit und Kraft, um Freundschaften und Beziehungen zu pflegen und zu genießen, in denen sie dies erleben können: Nicht umsonst sind Burnout, Erschöpfung und Depression typische Krankheiten unserer Zeit und Kultur. Natürlich gibt es Lebenssituationen, die einen an Grenzen bringen. Aber oft sind es doch unsere eigenen Entscheidungen, unser Streben nach Anerkennung, der Versuch, manches Ziel mit Gewalt zu erreichen, oder unsere gesteigerten materiellen Wünsche und zunehmendes Streben nach „mehr“, die uns am Ende mit „weniger“ an Glück und Lebenszufriedenheit dastehen lassen.
Glücklicher Jesus?
In dem Gespräch mit meinem Freund habe ich mir die Frage gestellt, was wohl Jesus glücklich gemacht hat? Ich stelle fest: Jesus investierte einen Großteil seiner Zeit und Kraft in die Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen. Seine Achtsamkeit in Alltagssituationen ermöglichte viele intensive Begegnungen, jede einzelne davon reich an Emotion, Liebe, Zuwendung und Herz.
Bereichernde Begegnungen
Bei uns im nehemia team haben sich vier Ebenen entwickelt, die unsere Arbeit und unser persönliches Leben prägen und bereichern: Die Begegnung mit Gott, Freunden, anderen Kulturen und mit „Gottes VIP´s“. Wir sind immer wieder reich beschenkt durch die Anstöße, die wir durch die Bibel und das Gebet erfahren. Wir erleben Ergänzung und Horizonterweiterung durch unsere Kontakte in verschiedenste Kulturkreise hinein, sowohl durch Auslandsprojekte als auch durch die Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten vor Ort. Vor allem aber sind es Freundschaften und Familie, die unser Leben tragen und bereichern. Dies wird besonders in persönlichen Krisenzeiten sichtbar. Nicht zuletzt jedoch lassen wir es auch immer wieder zu, dass Menschen in Not oder mit Benachteiligung (wir nennen sie gerne „Gottes VIP´s) uns nahekommen dürfen. Hier entdecken wir, wie Begegnungen mit den „Armen dieser Welt“ unser Leben auch bereichern. Dazu kommt manch ungeplante, unscheinbare, oft zufällige Begegnung, die uns berührt.
Ich brauche Hilfe
Als Kind meiner Zeit und Kultur merke ich, wie sehr mich dieses Streben nach „mehr“ an Wohlstand und Konsum ansteckt. Gerne verdränge ich die Gedanken, dass Vieles davon auf Kosten anderer Menschen (vor allem dem armen Teil dieser Welt) geht. Auch der zunehmende Individualismus unserer Gesellschaft, das Streben nach Anerkennung und Status gehen nicht spurlos an mir vorüber. Aber es sind gerade Begegnungen, die mich herausfordern und mir helfen umzudenken, mich zu verändern und von mir selbst auch einmal wegzuschauen. Ich lerne darin Geben, Schenken, Teilen, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Wertschätzung, Zeit nehmen, Interesse zeigen, auf andere Zugehen und ein Stück mehr Genügsamkeit. Mir hilft auch, ein mehr an „Miteinander“ zu entdecken: Mit anderen etwas gemeinsam zu unternehmen, miteinander tiefere Dinge meines Herzens zu teilen und mehr Zeit in Freundschaften zu investieren. Manche Enttäuschung aus der Vergangenheit stand dem oft im Wege.
Ein Suchender bleiben
Nur ein suchendes, offenes Herz lässt Gott und andere Menschen näher an sich heran und ermöglicht, ihnen in der Tiefe zu begegnen. Wer in einem abgeschlossenen Denksystem lebt, verliert diese Fähigkeit. Daher ist jegliche fundamentalistische Denkweise so gefährlich, egal ob im Islam, Juden- oder Christentum. Sie lebt von Schwarz-Weiß-Denken, von Feindbildern und Ausgrenzung. Sie schafft abgeschlossene Systeme, die Begegnungen nur noch mit Gleichgeschalteten erlauben. Ein solches Denken macht echte Begegnung, vor allem mit Andersdenkenden, sehr schwer.
Farbe bekennen
Gott ist „bunt“ und hat eine bunte Welt geschaffen. Farbe hat etwas mit Leben zu tun. Liebe wirkt darin wie ein Prisma und bricht sich in vielen Farbmustern. Für viele Herausforderungen, Konflikte und Probleme in dieser Welt gibt es keine simplen Lösungen. Aber es lassen sich Lösungen finden, im Großen wie im Kleinen, wenn unsere Meinungen, unser Handeln und vor allem unser Blick auf den Menschen – egal welcher Hautfarbe, Herkunft oder Überzeugung – durch dieses Prisma der Liebe Gottes geht. Plötzlich werden neue Wege sichtbar, Lösungen zeichnen sich ab – und vor allem: Menschen begegnen sich. In diesem Sinn gilt es, in dieser Welt „Farbe“ zu bekennen. Liebe öffnet mein Herz für tiefe Begegnungen: mit meiner Familie, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen, Flüchtlingen, Armen, Behinderten – und nicht zuletzt mit einem lebendigen Jesus, der mir auch in und durch diese Menschen begegnen will.
Gefordert und Gefördert
Es kostet mich etwas Zeit und Überwindung meiner Angst, auf jemanden zuzugehen. Manchmal braucht es mein bewusstes Innehalten. Das Gespräch neulich hat mir geholfen, etwas empfindsamer gegenüber anderen Menschen zu werden. Dort, wo ich Menschen begegne, komme ich auch mit Schmerz und Freude in Berührung. Daran Anteil zu nehmen, fordert mich, es gibt mir aber zugleich ein Stück Lebendigkeit und fördert mich in meiner Persönlichkeit. Meint Paulus vielleicht das, wenn er sagt: „Weint mit den Weinenden und lacht mit den Lachenden“?
Erlöst zur Begegnung
„Erlösung“ beinhaltet so viel mehr als die Vergebung meiner Schuld: Ein Aspekt der Erlösung, die Jesus für uns bereithält, ist die Loslösung von diesem „Streben nach Mehr“. Auch von einem überzogenen „Drehen um mich Selbst“ will mich Jesus durch eine neue Blickrichtung lösen. Ich darf lernen, in meinen Lebens- und Zukunftsfragen ihm zu vertrauen und darin zur Ruhe zu kommen. Beides, Unzufriedenheit und Selbstzentriertheit, behindert mich oft, anderen Menschen zu begegnen. Dort aber, wo ich dem Herz einer anderen Person begegne, spüre ich, wie wertvoll sie ist. Mein Respekt vor dem Anderen wächst. Mein Horizont erweitert sich. Ich entdecke Neues an mir und anderen, erlebe Ergänzung und finde darin ein hohes Maß an Lebensqualität, Zufriedenheit und<Glück. Solche, manchmal kleine, unscheinbare und ungeplante Begegnungen machen mich reich. Wo ich mich ihnen entziehe, bleibe ich arm – selbst wenn mein materieller Wohlstand wächst.
Gerne würde ich noch über manch tiefe und schöne Begegnung berichten, die ich in den letzten Monaten mit Menschen, mit anderen Kulturen und mit Gott hatte. Aber was diese Begegnungen für mich bedeuten, kann ich nur schwer in Worte fassen. Eines will ich aber noch zum Schluss anmerken: ich spüre, ich bin lebendig und ich fühle mich sehr reich und beschenkt!
Hans Heidelberger
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