von Tetiana Machabeli

In meiner Jugend hatte ich im Kindergarten oder in der Schule niemals ein Waisenkind oder ein Kind mit Behinderung zu Gesicht bekommen. Auch auf der Straße oder anderswo sind sie mir nie begegnet. Ich hatte über sie nur in Büchern gelesen.

Als Nachbarn hatten wir eine Zigeunerfamilie. Ihre Kinder spielten mit uns. Sie waren lustig und vielleicht etwas chaotisch, aber wir hatten ihnen gegenüber keine Vorurteile. Ich wusste zwar, dass es so etwas wie Waisenhäuser gab, aber diese waren abseits der Städte und Hauptstraßen. 

Diagnose MS

Anfang der 90er-Jahre erkrankte mein Bruder an Multipler Sklerose und war gelähmt. Erst dadurch kam ich mit Gruppen von Menschen in Berührung, die „anders“ waren. Ich fand heraus, dass es viele von ihnen gab und dass sie in unserer Gesellschaft keinen Platz hatten und kaum sichtbar waren. Einmal wollte mein Bruder in seinem Rollstuhl ins Freie, aber dies war für ihn eine riesige Herausforderung. Ich half ihm, zum Lift zu kommen, um dann feststellen zu müssen, dass der Rollstuhl nicht in den Aufzug passte. Auch unsere Straßen waren nicht für Gehbehinderte geeignet. Du galtst schon als privilegiert, wenn du einen Rollstuhl dein Eigen nennen durftest. Meine Mutter arbeitete beim Roten Kreuz. Daher hatte sie einen Rollstuhl für meinen Bruder bekommen.

Heldinnen

In späteren Jahren traf ich Mütter behinderter Kinder, die ihre Kinder nicht in spezielle Waisenhäuser oder Einrichtungen für Behinderte geben wollten. Zu Sowjetzeiten war es üblich und normal, ein behindertes Kind wegzugeben und es speziellen staatlichen Einrichtungen zu überlassen, Heime weitab vom normalen Leben. Diese Mütter wurden Heldinnen für mich! Sie pionierten die erste Tagespflegeeinrichtung für ihre Kinder. Die meisten von ihnen arbeiten inzwischen als Lehrerinnen und Pflegekräfte in dem neuen Zentrum. Um ihr Ziel zu erreichen mussten sie große Schwierigkeiten überwinden. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem ich sie mit ihren Kindern zum ersten Mal in der Öffentlichkeit gesehen habe. Die Kinder hatten Angst, es gab viel Geschrei und Aggression. Wenn ich sie heute besuche, ist das eine ganz andere Geschichte: Nirgendwo anders findest du so viel Freude, lachende Gesichter, Lebenslust, gegenseitige Unterstützung und Freundlichkeit.

Erster Kontakt mit Waisenkindern

Eine weitere Begegnung, die mein Leben veränderte, war mein Zusammentreffen mit Waisenkindern. Meine Freundin und ich wurden gebeten, uns um Jugendliche zu kümmern, die aus Altersgründen eines der staatlichen Waisenhäuser verlassen mussten. Das war in den 90er-Jahren,  einer Zeit, wo es in unserem Land sehr schwer war, auch nur irgendeinen Job zu finden. Als wir im Waisenhaus ankamen, um die Kinder zu treffen, wurden wir von einer großen Anzahl von Kids umringt: Alle mit demselben Haarschnitt, einem eigenartigen Geruch und jeder wollte uns anfassen. Sich selbst überlassen rannten sie in einer großen Gruppe auf einem Schulhof hin und her, ähnlich wie ein Rudel Straßenhunde.

Ein grausames System

Es waren 18 junge Frauen, im Alter von 18 bis 28, die das Heim verlassen sollten. Der Direktor dieses Heimes wollte sie nicht einfach auf die Straße setzen und gab ihnen weiter heimlich Essen und einen Platz zum Schlafen, obwohl dies illegal war. Laut Gesetz muss ein Waisenkind mit 18 Jahren entlassen werden und aufs College, die Universität oder an einen Arbeitsplatz vermittelt werden. Das Problem war, dass die Mädchen alle Entwicklungsstörungen hatten und nicht arbeiten, geschweige denn studieren konnten. Außerdem war keine auf ein eigenständiges Leben vorbereitet. Der Weg in die Kriminalität oder Prostitution war vorgezeichnet. Ich war schockiert über die Grausamkeit unseres Systems. Wir konnten den meisten von ihnen helfen. Dabei mussten wir ihnen die einfachsten Dinge beibringen: beginnend bei persönlicher Hygiene und Umgangsformen bis zu Arbeitsmoral und Umgang mit Finanzen. Viele wurden schon nach der Geburt in diese Heime gesteckt. Es gab in diesen Zeiten nur zwei Alternativen: Staatliches Waisenhaus oder Adoption. 

Erste Hilfsansätze

Wir starteten Wohngemeinschaften und organisierten Freiwillige, die in die Waisenhäuser gingen, um den Kindern praktische Umgangsformen beizubringen. Auch merkten wir, dass es für die Kinder in diesen Heimen kaum Anreize für sinnvolle Beschäftigung gab. Eine Dame machte uns mit der Montessori-Methode bekannt, einem Ansatz, der die ganzheitliche Entwicklung des Kindes im Blick hat.

Reformen im Sozialsystem

Seit 2004 werden in der Ukraine in sozialen Bereichen echte Reformen eingeführt. Die Regierung hat grünes Licht dafür gegeben, dass Waisenkinder in einem familiären Umfeld aufwachsen sollen. Viele Ukrainer öffneten ihre Familien, um Waisenkinder aufzunehmen. Sie sahen sich vor ähnliche Herausforderungen gestellt, wie wir damals. 

SO KONNTEN WIR UNSERE ERFAHRUNGEN WEITERGEBEN UND SIE AUCH MIT DER MONTESSORI-PÄDAGOGIK BEKANNT MACHEN. 

Montessori-Kinderzentrum

2011 eröffneten wir in unserem Nehemia Training Center das erste Montessori-Kinderzentrum, wo Eltern diese Methode erlernen können. Hier werden Kinder mit Behinderungen zusammen mit anderen Kindern gemeinsam gefördert. Dieselbe Methodik praktizieren wir bei unseren Sommercamps für Kids aus der Stadt Uzhgorod – mit unbeschreiblichem Erfolg. 

Neue Bildungsreform

2016 startete die Ukraine eine neue Bildungsreform, speziell für den Grundschulbereich. Der Unterricht soll mehr kinderorientiert und weniger lehrerorientiert werden. Seit diesem Jahr werden für die 1. Klassenstufe neue Lehrpläne eingesetzt. Wir haben entdeckt, dass sie viele Elemente der Montessori-Pädagogik enthalten. Leider sind die meisten Lehrer noch nicht bereit  für diesen Wandel. Alles, was sie kennen, ist der klassische Bildungsansatz aus der Sowjetzeit, bei dem diejenigen leicht herausfallen, die nicht so privilegiert sind. Die neuen Reformen benötigen inklusive Schulklassen. Dies ist ein weiterer Bereich, in dem unser Schulsystem noch nicht bereit ist, sich umzustellen. Die Schulen haben dafür noch keine Infrastruktur geschaffen. So besuchen Lehrer die Kinder mit Behinderungen exklusiv zu Hause, anstatt sie inklusiv in die normalen Schulklassen zu integrieren. Oft kommen diese Lehrer zu uns und bitten uns, ihnen Material zu geben und ihnen die neue Methode beizubringen.

Inklusive Modellschule

Wir hoffen, nun bald eine inklusive Grundschule, die nach Montessori-Methoden arbeitet, als Modellschule starten zu können. Sie hat das Ziel, Eltern und Lehrern zu helfen, die Kinder in einem nicht verletzenden Umfeld so zu entwickeln und zu lehren, dass jedes Kind seinen Platz in der Gesellschaft vor Ort finden kann. Allen Herausforderungen und Schwierigkeiten, durch die unser Land momentan geht, zum Trotz, sind wir überzeugt: Es hat eine gute Zukunft vor sich, wenn es uns gelingt, in der richtigen Haltung die Seelen der Kinder zu berühren und für ihre Entwicklung das dafür nötige Umfeld schaffen. 

Tetiana Machabeli (sie ist Leiterin von NGO Neemia in Uzhgorod und setzt sich engagiert für Inklusion benachteiligter Kinder und Randgruppen ein)

[signoff]